Fünf Börsenexperten schauen auf den goldenen Bullen und Bären

Warten auf die Rally (Aus der Wirtschaftswoche)

An den Finanzmärkten läuft eine Zeitenwende der eigenen Art: Spielten Zinspapiere für Anleger in den vergangenen Jahren keine Rolle – wie auch, bei Negativzinsen von Bundesanleihe bis Tagesgeld, schiebt sich das Thema in diesem Jahr ganz nach vorn. Grund genug, zum traditionellen Roundtable der WirtschaftsWoche gleich zwei Anleiheexperten an den symbolisch runden Tisch in Frankfurt zu bitten. Neue Chancen bei den viele Jahre langweiligen Bonds waren ein zentrales Thema der Runde. Das Makroumfeld für die Finanzmärkte ist noch düster: In Europa herrscht Krieg, China koppelt sich ab, die Inflation galoppiert mit zweistelligen Raten, und die Notenbanken scheinen die Welt mit harten Zinserhöhungen in die Rezession zu treiben. Und doch waren die Geldgurus längst nicht so pessimistisch gestimmt wie erwartet. Womöglich hob es die Stimmung, dass die Börsen gerade am Vorabend des Treffens wegen besser als erwartet ausgefallener Inflationszahlen wieder in den Rallymodus gefallen waren.

Wirtschaftswoche: Frau Haag, meine Herren, ist mein Geld 2023 besser in Anleihen als in Aktien aufgehoben?

Felsenheimer: Zehn Jahre haben wir uns geärgert, dass es keine Zinsen gibt. Auch wenn die Zinssteigerungen für viele schmerzhaft waren: Jetzt gibt es tolle Gelegenheiten am Anleihemarkt.

Jochen Felsenheimer

Wirtschaftswoche: Auf dem Papier. Aber wann sehen wir wieder positive Renditen – real, nach Abzug der Inflation?

Felsenheimer: Lange dauert das nicht. Wir pendeln uns bei fünf Prozent nominaler Zinsen in den USA ein und bei drei Prozent in der Euro-Zone. Bei langen Laufzeiten gehen die Renditen schon wieder nach unten. Das heißt, die Märkte sehen fallende Inflationsraten.

Wirtschaftswoche: US-Inflationsdaten waren nicht so schlimm wie erwartet, und schon jubelte die Börse. Zu Recht?

Kopf: Ja. In diesem Jahr bewegen die Notenbanken die Märkte. Bis Juni sind die Zinsen gestiegen, die Kurse der Anleihen fielen. Der 15. Juni war ein Wendepunkt, da hat die US-Notenbank die Zinsen weniger stark angehoben als erwartet. Daraufhin gab es eine Erholung an der Börse bis zum Notenbanktreffen in Jackson Hole im August, wo Fed-Chef Jerome Powell eine straffere Geldpolitik ankündigte. Die Konferenz hat eine ungute Gruppendynamik in Gang gesetzt.

Wirtschaftswoche: Wieso?

Kopf: Man wirft uns Fondsmanagern immer Herdenverhalten vor. In Wirklichkeit sind die Zentralbanken die Herdentiere. Die rennen alle in eine Richtung.

Fischer: Ich dachte, Acting in concert sei verboten.

Kopf: Ja, wir Fondsmanager dürfen das nicht.

Wirtschaftswoche: Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank EZB, hat das Treffen geschwänzt.

Kopf: Dafür hat EZB-Direktorin Isabel Schnabel dort eine sehr falkenhafte Rede gehalten. Jackson Hole hat die dritte Phase eingeleitet, die ging bis zum 10. November. Alle Zentralbanken haben die Zinsen angehoben, in der Erwartung, dass die Inflation immer weiter steigen wird. Das war die Rache der Rechtsanwälte.

Wirtschaftswoche: Welche Anwälte, welche Rache?

Kopf: Zentralbanken waren immer von Ökonomen geprägt, aber jetzt sind Juristen am Ruder. Lagarde und Powell sind keine Ökonomen. Sie haben den Prognosen der Volkswirte vertraut. Aber dieses Vertrauen wurde erschüttert, weil die Modelle zur Inflationsprognose versagt haben. Und da haben die Juristen gesagt: Okay, egal, was ihr erzählt, wir werden die Zinsen anheben, bis wir das Weiße in den Augen der Inflation sehen. Sie schauen nur noch auf die aktuelle Zahl. Dann fiel am 10. November unerwartet die Kern - inflation in den USA – und so wurde die vierte Phase eingeläutet. Der Markt nimmt vorweg, dass wir die Spitze der Leitzinsen bald erreicht haben. Wir haben eine schöne Adventszeit vor uns.

Wirtschaftswoche: Und 2023 wird wieder alles gut?

Kopf: Mich drückt die Sorge, dass die Zinsanhebungen am Ende nicht ausreichen und die Inflation doch stärker ist, als wir erwarten. Das ist das Thema 2023.

Wirtschaftswoche: Japan ist nicht in der Herde mitgelaufen.

Haag: Die Bank of Japan wird bis zum Abschied ihres Chefs Haruhiko Kuroda im April wohl nichts an den Zinsen verändern. Er ist übrigens kein Anwalt, sondern in Oxford ausgebildeter Ökonom, der mit einer lockeren Geldpolitik Wachstum ankurbeln will. Nach ihm dürfte die Geldpolitik weniger locker werden.

Wirtschaftswoche: Wird die Fed jetzt langsamer vorgehen und kleinere Zinsschritte nach oben machen?

Fischer: Ja. Wenn sie jetzt auch noch die Anleihekäufe nicht weiter zurückdreht, könnte das Liquidität bringen und der Börse einen nächsten Impuls geben.

Wirtschaftswoche: Sehen wir noch eine Jahresendrally, Herr Leber?

Leber: Ja, natürlich. Reicht die Antwort?

Wirtschaftswoche: Bisschen mehr wäre schön.

Leber: Wegen der schwachen Rentenmärkte wurde alles runtergeprügelt. Jetzt kommen viele, sehen Geschäftsmodelle, die was taugen, und kaufen. Für mich ist es das Signal, dass wir den Boden erreicht haben.

Wirtschaftswoche: Und die Inflation?

Leber: Geht runter, allein wegen der Basiseffekte, da müssen Notenbanker gar nichts machen. Und da die US-Inflation runtergeht, wird man im Markt sagen, wo war eigentlich das Problem? Das ist dann der Funke, der das Feuer für die Börsen entfacht. In Europa wird die Inflation bleiben. Sie schadet den Unternehmensgewinnen aber nicht, weil Unternehmen die Kosten weitergeben. Sie werden gut verdienen. Für mich sind das Anzeichen, dass die Rally weiterläuft.

Fischer: Die Aktienrückkäufe sind zurück, das treibt die Kurse. Bis Weihnachten wird es nett.

Wirtschaftswoche: Dabei herrschte in London noch Endzeitstimmung, als die Renditen der Staatsanleihen nach oben schossen und das Pensionssystem wankte.

Felsenheimer: Viele zogen Parallelen zum Kollaps von Lehman Brothers. Aber das war eine Krise des Bankensystems. Jetzt ist es eine realwirtschaftliche Krise, die zu Preisanpassungen an den Märkten führt. Wenn eine Regierung Blödsinn macht, dann gibt das Verwerfungen, aber es wurde alles zurückgenommen, nach einer Woche hatte sich das Pfund erholt.

Leber: Immerhin kippte das Pensionssystem.

Felsenheimer: Aber man hat schnell reagiert.

Kopf: Pensionsfonds hatten kein Cash und mussten notverkaufen. Da haben wir zugegriffen.

Fischer: Deren Risikomodelle waren nicht auf so schnelle Zinsänderungen eingestellt.

Kopf: Genau. Wir hatten das noch nie. Ich denke, hier hat eine Notenbank eine Regierung gestürzt. Die Zentralbank hätte den Ausverkauf stoppen können. Sie hat das nicht getan, weil die Regierung Truss gesagt hat, wir machen immer mehr Schulden, und zur Not muss eben die Bank of England den Staat finanzieren. Das war die Vision, und die Notenbank hat gesagt: Nicht mit uns.

Christian KopfWirtschaftswoche: Es war eine gut getimte Mahnung an die gerade neu gewählte Regierung in Italien.

Kopf: Wenn Sie den Budgetplan von Giorgia Meloni durchlesen, der ist wunderbar und moderat.

Wirtschaftswoche: Verlieren Notenbanken die Geduld mit der Politik?

Kopf: Da hat sich im Oktober etwas gedreht. Die alte Beißhemmung ist weg. Frau Lagarde sagte gerade in Tallinn, sie straffe die Geldpolitik. Und im Übrigen bitte sie alle Regierungen um straffe Haushaltspolitik.

Wirtschaftswoche: Wie kann es so lange funktionieren, dass die Notenbank die Staatsschulden kauft, also Geld für den Staat druckt, so wie in Japan?

Haag: Solange es keine Inflation gibt und die Staatsanleihen in japanischen Händen liegen.

Felsenheimer: Und solange die Zentralbank ihre Glaubwürdigkeit behält. Wir kommen aus der Negativzinswelt. Deshalb passieren verrückte Dinge. Angesichts all dieser Verrücktheiten läuft es ganz okay, oder?

Kopf: Ja, ganz okay?

Fischer: Also können wir jetzt so weitermachen? Das ist doch wunderbar!

Felsenheimer: Ich war überzeugt, das Finanzsystem sei viel fragiler. Doch man kann viel Blödsinn machen, und es steht doch noch alles.

Wirtschaftswoche: Weil immer noch brave Versicherer oder Banken die Anleihen der verschuldeten Staaten kaufen.

Leber: Kaufen müssen. Ihnen wird versprochen, dass zurückgezahlt wird. Das geht gut – bis wirklich zurückgezahlt werden muss, wenn viele in Rente gehen.

Felsenheimer: Die Anleihen mit zwei, drei Jahren Restlaufzeit bieten derzeit sehr hohe Renditen. Privatanleger müssen nicht komische Sachen kaufen wie Großanleger, die auch bei einer 100-jährigen Österreichanleihe zugreifen, über die sie lange Verpflichtungen decken. Ökonomisch ist das nicht rational.

Wirtschaftswoche: Wo sind die attraktiven Papiere?

Felsenheimer: Europäische und US-Hochzinsanleihen. Sie dürfen aber nicht den ganzen Index kaufen, weil da viel Schrott dabei ist. Aber im Ausverkauf sind auch sehr gute Namen unter die Räder gekommen.

Wirtschaftswoche: Zum Beispiel?

Felsenheimer: Dollar-Anleihen europäischer Banken. UniCredit oder Intesa haben welche mit attraktiver Rendite. Das habe ich zehn Jahre nicht mehr gesehen.

Kopf: Privatanlegern würde ich solide Fonds für europäische Industrieanleihen und Bankanleihen empfehlen. Mit vier Prozent Rendite sollte man nächstes Jahr eine leicht positive Realverzinsung haben. Da kann man gut schlafen. Es gibt zudem sehr gute Chancen etwa bei Tier-1-Anleihen ...

Wirtschaftswoche: ... das sind nachrangige Schuldverschreibungen von Banken, die zum Eigenkapital zählen.

Felsenheimer: Banken sind derzeit sehr attraktiv, sie sind hochreguliert und bieten hohe Renditen. Von Credit Suisse etwa gibt es fast acht Prozent.

Kopf: Sie können sich jetzt sogar Geldmarktfonds kaufen mit 2,4 Prozent Nettorendite.

Felsenheimer: Das gab es vor 15 Jahren auch schon mal, aber damals war viel Schrott drin – heute nicht

Kopf: Industrieunternehmen wie E.On, Siemens, VW und Acciona haben 2022 Anleihen begeben, die man jetzt mit vier Prozent Rendite kauft – und das ist künftig aller Voraussicht nach eine positive Realrendite. Die Bonität ist gleich, nur der Preis ist gefallen.

Leber: Ich bin nicht so optimistisch für Bonds. Da knirscht es noch mal ganz gewaltig. Nehmen wir an, wir haben noch ein bis zwei weitere Zinserhöhungen in den USA und in Europa: Dann fallen die Kurse erst mal weiter. Immobilienunternehmen mit ihren tollen Anleihen gehen kaputt, weil die Mieter die Energiekosten nicht zahlen können und die Zinsen steigen.

Kopf: Natürlich. Man sollte nicht sagen, ich kaufe jetzt mal alle Immobilienanleihen. Jetzt kommt die Stunde der Rosinenpicker.

Leber: Bisher wurden die Gewinnprognosen nach oben korrigiert, aber die Kurse fielen – das war der klassische Abverkauf. Und jetzt kommt die Zeit, in der ich ein Kurs-Gewinn-Verhältnis, ein KGV, von zehn oder zwölf habe und fantastische Wachstumsraten. Also auch für uns auf der Aktienseite lohnt es sich.

Kopf: Erstmals seit 2009 sind die Renditen der Anleihen auf dem gleichen Niveau wie die Dividendenren- dite derselben Unternehmen. Als Anleiheinvestor habe ich immer noch eine bessere Stellung als der Aktionär, dessen Dividende ausfallen kann.

Fischer: Man muss wirklich schauen, wo das Aktienrisiko angemessen kompensiert wird.

Wirtschaftswoche: Und wo ist das der Fall?Frank Fischer

Fischer: Warren Buffett sagt, es sei besser, eine wunderbare Firma zu einem fairen Preis zu kaufen, statt eine mittelprächtige Firma zu einem wunderbaren Preis. Jetzt habe ich wunderbare Firmen günstig.

Wirtschaftswoche: Und wer ist so wunderbar?

Fischer: Amazon, Alphabet oder Microsoft, zu Ausverkaufskursen. Ganz zu schweigen von Meta, die günstigste von allen. Wenn Mark Zuckerberg mit seiner Vision vom Metaverse recht haben sollte, und die Wahrscheinlichkeit ist ja nicht null, dann ist die Aktie zum jetzigen Preis ein Geschenk des Himmels.

Haag: Mein Sohn hat seine AR-Brille nach einem halben Jahr verkauft, es sei die Fehlinvestition seines Lebens gewesen. Es wird so ähnlich wie mit dem 3-D-Druck. Was ist daraus geworden? Nicht viel.

Wirtschaftswoche: Wenn ich künftig nur noch Geld für Sachen habe, die ich dringend brauche, kaufe ich keine Spiele.

Kopf: Ich bin in Kolumbien aufgewachsen. In den Elendsvierteln gab es überall Farbfernseher. Es geht nicht um Spiele, sondern darum, dass man sein reales Leben als defizitäre Existenz empfindet und sich einen Avatar schafft. Virtuell ist man dann Superman.

Leber: Facebook ist für mich das Telefonbuch des Internets, da passiert nicht mehr viel, das ist ein ausgereifter Markt. Da gibt es andere, die sind unstoppable. Etwa der ganze Halbleiterbereich, die Anwendungen werden immer breiter. Da sehe ich keine Grenzen. Und Amazon. 75 Prozent der Erträge kommen aus dem Cloud-Geschäft. Den Versandhandel kann Jeff Bezos wegschenken, den braucht er gar nicht.

Wirtschaftswoche: Lange hieß es, chinesische Big Techs wie Alibaba und Tencent seien günstiger als die US-Riesen.

Haag: Sie sehen günstiger aus, aber die Politik belastet. Die Welt sucht eine Entkopplung von China. Dass China sich nach Null Covid schnell öffnet und in die arbeitsteilige Welt integriert, sehe ich nicht kommen.

Fischer: Expats dürfen mit Biontech geimpft werden, ein erster Schritt. Aber entscheidend ist, ob ich in China mein Schicksal als Investor im Griff habe. Die Politik will, dass ich mein Kapital dort mit vielen teile.

Haag: Wenn ich nur ein KGV von sechs draufschreibe, wäre das okay. Aber mehr auch nicht. Es ist ein Schwellenland, und da sind Risiken dabei.

Kopf: Sobald die Politik anfängt, in Eigentumsrechte der Aktionäre einzugreifen, wird es gefährlich.

Fischer: Heute meine Aktie, morgen Putins.

Wirtschaftswoche: Greift China Taiwan an?

Haag: Wir haben lange gedacht, es wäre keine Frage des „Ob“, sondern des „Wann“. Jetzt, mit Russlands Misserfolg in der Ukraine, halte ich das für unwahrscheinlicher. Die Japaner aber sehen sich zwischen China und Nordkorea bedroht.

Wirtschaftswoche: Sind japanische Aktien billig?

Haag: Gegenüber den USA sind sie viel günstiger. Beim derzeitigen Yen-Kurs kann man auch noch mit Gewinnen aus einer Währungsaufwertung rechnen. Ich würde selektiv sein und nicht die Exporteure kaufen – eher Telekom, Brauereien oder Einzelhändler.

Kopf: Japan könnte der Trade für 2023 werden.

Leber: Wir haben eine Japan-Liste zusammengestellt. Da gibt es einige gute Aktien mit KGV drei bis zehn. Etwa Sumitomo Forestry, einer der größten Waldbetreiber der Welt, mit KGV von fünf. Oder etwas teurer Nitori, die japanische Ikea.

Lilian HaagHaag: Interessant sind neben dem von Ihnen genannten Wert auch Billigsupermärkte. Bei Inflation sind deren Handelsmarken interessant.

Wirtschaftswoche: Okay, also zum Beispiel Kobe Bussan?

Haag: Auch Halbleiterausrüster wie Tokyo Electron würde ich ansehen, die etwa 80 Prozent Weltmarktanteil haben und von Produktionsver lagerungen der Halbleiterindustrie profitieren. Sony ist interessant wegen vieler Bauteile und Sensoren etwa für Kameras in Handys. Und sie können auch Spiele sehr gut.

Kopf: Wenn Corona weg ist und Kuroda auch, dann wird es einen geldpolitischen Wandel geben. Sobald der Yen aufwertet, will ich Japan haben. Die Währung ist 20 Prozent unterbewertet, das ist weltweit die größte Abweichung vom historischen Durchschnitt. Man sollte in Japan Urlaub machen – wenn der Flug nicht so CO2-intensiv wäre und das Klima schädigt.

Haag: Viele meiner Freunde möchten in den Osterferien nach Japan. Festlandchinesen reisen noch nicht, aber für Hongkong sind die Quarantänevorschriften lockerer, die kommen zurück, andere Ostasiaten auch.

Leber: Also ist Japan der Geheimtipp?

Haag: Da muss ich den Risikohinweis geben: Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass Japan läuft, weil es günstig ist. Tut es nicht. Der breite Markt läuft, wenn die globale Wirtschaft anspringt.

Wirtschaftswoche: Danach sieht es nicht aus. Kommt die Rezession?

Fischer: Das ist sehr wahrscheinlich. Aber dann müssen die Notenbanken nicht mehr so viel machen, das signalisiert Entspannung.

Wirtschaftswoche: Rezession, weil die Notenbanken dann weniger hart vorgehen?

Fischer: Genau. Wir müssen aber auf einen zweiten Anlauf der Kurse nach unten vorbereitet sein. Die Notenbanken werden die Börsen nicht retten, es gibt keine V-förmige Entwicklung, sondern wir werden uns an der Bodenbildung abarbeiten. Dazu werden wir uns die vorhergesagten Gewinne der Unternehmen kritisch anschauen und beurteilen, ob uns die Manager reinen Wein eingeschenkt haben. Es gab schon ein paar Gewinnrevisionen. Da wird noch mehr passieren.

Wirtschaftswoche: Sie haben gerade meinen Bullen umgehauen. Herr Leber, stellen Sie ihn wieder auf?

Leber: Der Bulle lebt noch. Mein Weltbild fängt bei der Inflation an, der Ursache derHendrik Leber Zinserhöhungen. Da sie durch den Basiseffekt zwangsläufig runterkommt, sinkt der Stress bei den Notenbanken. Sie werden ein langsameres Tempo bei Zinserhöhungen fahren. Die Rezession wird kommen, aber sie läuft nicht der Börse vorweg, sondern hinterher. An der Börse ist sie schon vorbei. Ich habe in einem Jahr noch nie so viele Probleme gesehen, im ganzen Leben nicht. Klimawandel, Krieg, Energieknappheit, Inflation, Lockdown in China. Aber einige lösen sich auf, wie Chipmangel und Lieferkettenprobleme. Und dann wird der Krieg enden, und mit ihm das Energiedrama.

Wirtschaftswoche: Das erwarten Sie?

Leber: Ja. Im Moment haben wir Stillstand, die Russen werden verheizt, machen Terror, gewinnen aber kein Gelände mehr. Gleichzeitig wird die Ukraine immer besser ausgerüstet, ohne dass man den USA vorwerfen kann, sie hätten eingegriffen. US-Waffenbauer testen neue Waffen, da wird das beste Material aufgefahren. Dazu sehe ich in Moskau, wie Leute sich gegen die Kriegsführung wenden. Denkbar wäre, dass Jewgeni Prigoschin von Putin übernimmt. Er wird sagen, der Krieg bringt uns nichts, lasst uns das beenden. Originalton Goldman Sachs: Wenn Friedensgespräche beginnen, werden die Märkte fliegen.

Fischer: Dann bekommen wir wieder russisches Gas.

Wirtschaftswoche: Und werden wieder abhängig?

Leber: Derzeit liegen Dutzende Tankschiffe in der Nordsee, die darauf warten, dass endlich der Gaspreis steigt. Der Markt funktioniert, es ist genug Gas da.

Wirtschaftswoche: Droht uns wegen der Energie Deindustrialisierung?

Leber: Wenn die Politik das besser handhaben würde, wäre es nicht so schlimm. Die Autoindustrie hat noch einen langen Weg vor sich Richtung Elektrifizierung. Und ein Chemieproduzent wie BASF, warum soll der hier produzieren, wenn er es auch in China machen kann? Ich finde die zweite Reihe interessanter.

Fischer: Ich bin eben an dem Showroom von Nio vorbeigelaufen. Die Chinesen kommen, das ist für unsere Jobs gefährlich. Nur innovative Leistungen retten uns.

Wirtschaftswoche: Die Marke hilft, deshalb ist Porsche so gestiegen.

Fischer: Aber was ist, wenn das Apple Car kommt?

Wirtschaftswoche: Darauf warten wir schon lange, fast so lange wie auf die Corporate-Governance-Reform in Japan.

Haag: Die ist schon da.

Wirtschaftswoche: Japaner prügeln sich nicht mehr auf Hauptversammlungen?

Haag: Vielleicht noch in abgelegenen Gegenden.

Wirtschaftswoche: Bleiben die USA an der Börse dominierend?

Leber: Die USA haben den riesigen Binnenmarkt.

Fischer: Sie sind das kapitalistische Mutterland, auch wenn linke Demokraten weiter umverteilen wollen. Gott sei Dank ist Trump unwahrscheinlich geworden. Aber es gibt traditionellen Konservatismus und Kapitalmarktkultur, die Animal Spirits zulässt, aber kontrolliert. Das befruchtet Start-ups, und wir haben Player wie Microsoft. Die haben satt die Preise angehoben.

Leber: Wir haben auf Roadshows gefragt, wer Microsoft deshalb gekündigt hat. Zwei haben sich gemeldet, beide aus Stuttgart.

Wirtschaftswoche: Herr Leber, haben Sie noch Bitcoin?

Leber: Ja, ganz früh gekauft. Die Blockchain ist sinnvoll, für Transaktionen, Buchführung, Banken. Und dann habe ich Bitcoin, ein Wertaufbewahrungsmittel, im Moment nicht populär, aber es hat einen universellen Preis, ist transferierbar, in Bruchstücke teilbar, bietet Schutz vor repressiven Regimes. Es wird bleiben.

Kopf: Ich sehe da null Wert. Nichts. Jede doppelte Buchführung aus dem 14. Jahrhundert funktioniert besser. Ich kaufe Bitcoin, wenn Veranstalter den Eintritt zu Kryptokonferenzen in Bitcoin kassieren. Die wollen aber alle Dollar oder Euro.

Wirtschaftswoche: Was ist mit Gold? Ist der Preis im Moment politisch getrieben oder von den Zinsen?

Fischer: Gold kann in ein, zwei Jahren ein wichtiger Teil des Depots werden, sollten wir wirklich in eine längerfristige inflationäre und finanzielle Repressionsphase kommen, in der sich Staaten entschulden.

Kopf: Wenn der Realzins sinkt, geht der Goldpreis hoch. Aber der Realzins ist gestiegen.

Wirtschaftswoche: Was sollte ich sonst kaufen?

Fischer: Wer ein bisschen mehr will als die vier Prozent, kommt auf Aktien. Ich will nicht zocken, ich will investieren, deshalb will ich keine zyklischen Investments. VW ist nicht teuer, keine Frage. Aber wie nachhaltig ist das Geschäftsmodell? Will ich gar nicht beurteilen. Ich würde schrittweise bei nicht zyklischen Qualitätsaktien einsteigen. Mittlerweile kriege ich ganz viele, die mir über 15 Prozent pro Jahr versprechen als Total Shareholder Return, das ist der Gesamtertrag aus Cashflows, Dividenden, Rückkäufen. Das entspricht in fünf Jahren einem Kursverdoppler.

Wirtschaftswoche: Wer bringt diese 15 Prozent?

Fischer: Autodesk, Adobe, Oracle, SAP, Visa.

Leber: Ich habe große Lust zum Investieren. In den nächsten sechs Monaten sollte man stupide Monat für Monat einzahlen, den genauen Tiefpunkt findet doch keiner. Anleihen könnten noch günstiger werden. Wandelanleihen sind spannend, da sind gefallene Engel drunter. Die von Korian und Orpea in Frankreich etwa, nachdem es Probleme in deren Pflegeheimen gab. Ansonsten finde ich die Halbleiter- und Biotechbranche sowie Wasserstoffausrüster interessant.

Haag: Wir haben noch nicht über die Gesundheitsbranche gesprochen. Medikamente gegen Fettleibigkeit und Alzheimer können gigantisch werden.

Fischer: Roche ist nicht teuer, auch wenn sie es jetzt mit dem Alzheimer-Wirkstoff nicht geschafft haben.

Leber: Und Biontech, wie kann man daran vorbeigehen? Die haben 22 Milliarden Euro in der Kasse, bei einem Börsenwert von 40 Milliarden. Corona wird nicht verschwinden, Malaria, HIV, Gürtelrose sind in der Forschung, dazu noch Krebs. Da haben sie 24 klinische Studien, fünf sind im Bereich der Phase 2, und die Aktie bekommen Sie für den vierfachen Jahresgewinn.

Fischer: Die Gewinnschätzungen sind nicht valide, hier bin ich vorsichtig. Aber sie haben das Potenzial, durch Impfung Krebs zu besiegen. Sie ziehen Tausende Talente an, bauen in Mainz den riesigen Campus.

Kopf: Dann ist der beste Trade doch: Kaufen Sie Wohnungen in Mainz!

 

Frank Fischer

Frank Fischer

Frank Fischer, Jahrgang 1964, ist Vorstandvorsitzender (CEO) der Shareholder Value Management AG und übt dort die Funktion des Chief Investment Officers (CIO) aus. Außerdem ist Frank Fischer Vorstandsmitglied der Shareholder Value Beteiligungen AG. Bis Ende 2005 war Frank Fischer als Geschäftsführer von Standard & Poor´s Fund Services (vormals Micropal GmbH) zuständig für Investmentfonds-Informationen und -Ratings.